Die
politische Karriere eines Mörders
Die
13-jährige Dora Anlauf sucht am späten Abend des 9. August 1931 beunruhigt das
7. Polizeirevier auf und fragt nach ihrem Vater Paul, der an diesem Tag nicht
nach Hause kam. Sie möchte wissen, ob ihrem Vater, dem Leiter des
Polizeireviers etwas zugestoßen sei. Vergeblich wartet sie auf eine Antwort.
Keiner der Polizisten traut sich, ihr mitzuteilen, dass ihr Vater am selben
Abend auf dem Bülowplatz hinterrücks erschossen wurde. Genauso sein Begleiter
Franz Lenck, der wie Paul Anlauf von mehreren
Schüssen getroffen wird und schließlich im Vorraum des Babylon-Kinos zu Boden
sinkt. Der Schütze ist Erich Mielke, Mitglied der Kommunistischen Partei
Deutschlands (KPD) und späteres Staatsoberhaupt der DDR. Er flieht kurz darauf
in die Sowjetunion und entkommt somit dem Todesurteil.
Am
Tag des Doppelmordes wird der Volksentscheid gegen die sozialdemokratisch-preußische
Regierung abgehalten. NSDAP und KPD hatten die Volksabstimmung organisiert, um
die Regierung unter Braun und Severding zu stürzen.
Demonstranten nähern sich daher im Verlauf des Tages dem Bülowplatz (heutiger
Rosa-Luxemburg- Platz) im Zentrum Berlins. Der Bülowplatz ist die Hochburg der
KPD, die SPD ist in dieser Gegend besonders verhasst, wie auch die Polizei. In
Sichtweite befindet sich der Karl-Liebknecht-Bau, die Hauptzentrale der KPD. Immer
wieder war es in der letzten Zeit zu Konfrontationen zwischen KPD- und
SPD-Anhängern gekommen. Ein Arbeiter war am Tag zuvor von einem Polizisten
erschossen worden. Mehr und mehr Arbeiter schließen sich 1931 der KPD an und
rebellieren gegen die SPD-Führung. „Nieder mit der Regierung! Gebt uns Arbeit,
gebt und Brot, sonst schlagen wir euch tot!“. Die Stimmung auf den Straßen
Berlins zur Zeit der Weltwirtschaftskrise kocht. Der Doppelmord soll zur weiteren
Destabilisierung der sozialdemokratisch preußischen Führung beitragen.
Die
sozialdemokratische Parteizeitung „Vorwärts“ erhält nach dem Polizistenmord ein
Bekenner-Schreiben, in dem die Täter mitteilen, dass sie „vor den Schergen des
Machtapparates keine Angst haben und den Kampf mit der Waffe in der Hand bis
zum Ziele weiterführen werden“. Die Postkarte trägt den Absender
„Terroristische Arbeitsgruppe der Tat“. Bald wird klar, dass die KPD den
Anschlag geplant hatte. Heinz Neumann, Chefredakteur der „Rote Fahne“ der KPD
berichtet in einem verschlüsselten Brief über eine Politbürositzung, die kurz
nach dem Polizisten-Doppelmord stattfindet, dass die „Besprechung einen
durchaus befriedigenden Verlauf“ nahm und interessante Rücksprachen gehalten
wurden. Auch Emil Thälmann soll an der Sitzung teilgenommen haben, der „guter
Laune“ gewesen sei und Ulbricht.
Erich
Mielke schreibt ein paar Tage später in sein Tagebuch, die „Bülowplatz-Sache“
sei erledigt. Ein ähnlicher Satz fand sich in Erich Ziemers Tagebuch, der sich
damit als Mittäter Mielkes erkennbar macht. Ziemer und Mielke finden sich in
Moskau in einem Emigrantenheim wieder, über dessen Zustände sich Ziemer
beklagt, das „Essen sei schmutzig oder es gibt
überhaupt nicht zu essen“. Im Alex (Berliner Polizei) sei man besser
aufgehoben, so Mielke gegenüber der Heimleiterin Lorenz, die dies sofort dem
obersten KPD-Vertreter in Moskau, Wilhelm Pieck meldet. Daraufhin wird Mielkes
Mutter erlaubt, ihrem Sohn ein Paket zu senden. Darin befinden sich Seife,
Lederöl, Rasierzeug, zwei Mützen und Motorradhandschuhe. Ziemer fordert einen
Zirkelkasten, Rechenschieber und Bücher. Sie planen die Heimreise, doch Wilhelm
Pieck schlägt in Moskau Alarm: Dies müsse „selbstverständlich verhindert
werden, weil die sich daraus ergebenden Konsequenzen weder für uns noch für
Euch tragbar sind“, so Wilhelm Pieck, der Chef des KPD-Reporters Mielke.
Nach
der Machtergreifung der Nationalsozialisten beginnt im Februar 1933 die Jagd
der SA auf Kommunisten. Die Gruppe
„Sturm 2/10“ nimmt in der SA in der „Sache Bülowplatz“ die Ermittlungen auf. Die
Sturmabteilung der NSDAP sollte nach dem Willen Hitlers gewalttätige Übergriffe
gezielt auch auf Zivilisten und politische Gegner, darunter Mitglieder der KPD
und der SPD ausüben. Seit 1932 geht die SA gegen die organisierten Arbeiter der
KPD vor. Im Sommer 1932 fallen der SA über 100 Arbeiter zum Opfer. Im Fall des
Polizistenmordes am Bülowplatz wird gegen Max Matern, Personenschützer und
KPD-Mitglied ermittelt. Er soll an der Tat beteiligt gewesen sein. Weiter
werden Friedrich Bröde und Michael Klause der Mittäterschaft verdächtigt und
ins Verhör genommen. Wie die SA-Ermittlungen abliefen, bekommt im September
1933 auch Hellmuth Krug, Mitglied des Partei-Selbstschutzes (PSS) der KPD zu
spüren. Er berichtet später aus dem Exil, wie die SA-Truppe Sturm 2/10 gegen
ihn ermittelte:
Ich
sitze einem Moment regungslos im Bett. Ein enormer Lärm hat mich aus dem
Tiefschlaf gerissen. „Öffnen Sie die Tür oder wir brechen sie auf!“ ertönt eine
laute Männerstimme. Trampeln ist im Treppenhaus zu hören, wenig später wird die
Tür durch Schläge erschüttert. „Ich öffne! Ich öffne!“ rufe ich schlaftrunken und
schließe auf. 14 uniformierte SA-Leute stürmen meine Wohnung. „Haben Sie Waffen?“
bellt mich einer von Ihnen an. Ich verneine. „Wer ist sonst noch in dieser
Wohnung?“ – Niemand. Es ist 4.30 Uhr am Morgen des 27. September und ich sehe
mit an, wie die SA meine Wohnung auseinander nimmt. 14
Beamte der Geheimen Staatspolizei reißen meinen Sekretär auf, durchwüsten
Schränke und Mülleimer. Kriminalgehilfe Polenz führt mich in die Küche.
„Stillstehen, Du Kommunistenschwein!“ Er setzt sich an den Tisch und lehnt sich
breitbeinig zurück. „Sag mir Krug, wer ist beim Kader?“ gemeint war der PSS.
„Nenn mir Namen!“ Ich gebe lediglich zu, in der KPD Mitglied gewesen zu sein. Polenz
winkt zwei der Beamten zu. Mein Mantel wird mir noch übergeworfen, dann werde
ich abgeführt, in das Hauptquartier der Gestapo in der Prinz-Albrecht-Straße. Ich
muss militärisch still stehen und eine Liste von Namen
überprüfen, auf der auch Klause und Friedrich Bröde vermerkt sind, die im Fall
des Doppelmordes unter Verdacht stehen. „Kenne ich nicht“, lüge ich. Kurz
darauf bekomme ich einen schweren Schlag auf den Hinterkopf, dann trifft es
mich im Gesicht. Meine Nase knackt und ich spüre das warme Blut über meine
Wange laufen. Währenddessen beschimpft man mich als Waffenmeister von Neukölln.
Ich streite alles ab. Die Vernehmung dauert etwa eine Viertelstunde. Dann heißt
es: In 24 Stunden haben wir alles raus und werden dir den Arsch versohlen, bis
er platzt, wie die von Klause und Bröde. Ich wische mir das Blut ab und werde
zur SS-Wache in der Koloniestraße gebracht. Auf der SS-Wache Sturm 42 in
Reinickendorf werden meine Personalien aufgenommen und ich zum Sanitäter in der
dritten Etage des Gebäudes gebracht. Vor
mir geht ein Gefangener, er trägt nur Hose und Schuhe, seine linke Rückenhälfte
ist schwarz blutunterlaufen. Nachmittags um fünf Uhr werde ich wieder zur Vernehmung
geführt. Anwesend sind der Kriminalgehilfe Polenz, der Obertruppführer Kubick
und ein SS-Mann. Kubick liest mir noch einmal die Liste vor bis zu meinem
eigenen Namen. Ich leugne wieder, jemanden davon zu kennen. Dann werde ich mit
einem meterlangen Knüppel auf Handrücken und in die Kniekehlen geschlagen,
mehrmals auch mit der Hand an den Kopf und ins Gesicht. Kubick springt auf mich
zu, schlägt wieder mit dem Knüppel, während ich stramme Haltung annehmen soll. Irgendwann
kann ich seinen Anweisungen nicht mehr folgen und werde abgeführt. Krug wird solange gefoltert, bis er die
Waffenlager preisgibt und schließlich freigelassen wird. Er verlässt
anschließend das Land.
In
der Nacht des 27. Februar 1933 brennt der Reichstag. Zwölf Männer der Gestapo durchsuchen
die Berliner Wohnung von Hans Kippenberger. Gegen den Reichstagsabgeordneten
der KPD besteht ein Haftbefehl. Kippenberger selbst treffen sie dort nicht an,
nur seine Frau Thea und die beiden kleinen Töchter Jeannette und Margot. Die
Wohnung wird durchsucht, sämtliche Bücher und Unterlagen beschlagnahmt. Als die
Männer im Kinderzimmer ein von Wilhelm Pieck signiertes Buch finden, wird die
kleine Margot ausgefragt. Beide Mädchen hatten von den Eltern schon vor langem striktes Verbot bekommen, Informationen preis zu
geben. Sie halten sich daran. Wenig später erfährt Kippenberger von dem Besuch
und taucht unter. Er hält sich in Zürich, dann in Paris auf und fährt
schließlich nach Moskau. Der Chef der PSS, des bewaffneten Kaders der KPD wird
verdächtigt, Drahtzieher im Fall Bülowplatz gewesen zu sein. Pieck und Ulbricht
tragen in Moskau zur Verhaftung der damaligen Drahtzieher des Polizistenmords
Heinz Neumann und Hans Kippenberger, Chef des Militärpolitischen Apparats PSS,
bei. Er wird nach seiner Verhaftung in der Lubjanka per Genickschuss
hingerichtet. Im Biographischen Lexikon der deutschen Arbeiterbewegung von 1970
ist über ihn zu lesen sein: „Im Kampf gegen die faschistische Gefahr wandte er
auch Mittel des individuellen Terrors an, die vom Zentralkomitee der KPD aufs
schärfste verurteilt wurden.“ Die KPD hatte sich aus politischen Gründen nach
der Machtergreifung der Nationalsozialisten von den Taten ihrer PSS-Schergen
distanziert und sie als Terrortaten Einzelner bezeichnet. Auch Neumann wird in
der Lubjanka hingerichtet und auch sein Nachruhm in der DDR bleibt aus. Seine
Mittäterschaft wird ebenfalls im Lexikon der deutschen Arbeiterbewegung, das
vom Zentraglkomitee der SED herausgegeben wurde,
verurteilt: „Neumann vertrat seit Ende der zwanziger Jahre in entscheidenden
Fragen der Strategie und Taktik der KPD abenteuerliche und sektiererische
Auffassungen“ und „förderte Tendenzen des individuellen Terrors.“ „Eine
schwerwiegende parteifeindliche Handlung hatte Heinz Neumann begangen, als er
im August 1931 gemeinsam mit Hans Kippenberger die Erschießung von zwei
Polizeioffizieren organisierte, die unter der Arbeiterschaft besonders verhasst
waren“.
Kippenbergers
Frau Thea stirbt 1940 in einem sowjetischen Arbeitslager an einer
Lungenentzündung. Die Töchter Margot und Jeannette wurden in einer
Unterrichtsstunde aus dem Sowjetinternat für Emigrantenkinder geholt und in ein
Heim für „Kinder von Volksfeinden“ gebracht. Nach Kriegsende werden sie in die
Verbannung geschickt. Schließlich dürfen sie die Sowjetunion in Richtung
Ostberlin verlassen, wo Margot in ständigen Schwierigkeiten mit dem System
lebt. Aufgrund ihrer „antisozialistischen Haltung“ will man ihr dort die Kinder
wegnehmen. Sie setzt sich allerdings durch und übersiedelt im Gegensatz zu
ihrer Schwester in den Westteil der Stadt.
Im
Mai 1933 wird der Verfolgung und Vernichtung Oppositioneller offiziell juristisch
grünes Licht gegeben. Die „Deutsche Juristenzeitung“ veröffentlicht den Schrieb
des Landgerichtsdirektors Dietrich, der seine Kollegen zur Härte ermuntert:
„Die restlose Ausrottung des inneren Feindes gehört zur deutschen Ehre. An ihr
kann der Richter durch großzügige Auslegung der Strafprozessordnung
teilnehmen.“
Dementsprechend
wird 1934 im Doppelmord-Prozess gehandelt. Unter Mithilfe von SA und Gestapo
gelingt es den Justizbehörden, Geständnisse zu erzwingen und den bereits
verhafteten Michael Klause als Kronzeugen zu gewinnen. Schließlich werden
Michael
Klause, Friedrich Bröde und Max Matern zum Tode verurteilt. Ihre Gnadengesuche
werden abgelehnt. Auch Erich Mielke wird in Abwesenheit für schuldig befunden.
Fritz Bröde erhängt sich in seiner Zelle am Riemen seines Holzbeines. Plötzlich
befürworten der Untersuchungsrichter Thierbach und die Gestapo das Gnadengesuch
Michael Klauses. Adolf Hitler wandelt sein Todesurteil am 2. Mai 1935 in
lebenslängliche Haft um. Klause wird zunächst ins Zuchthaus Brandenburg
gebracht, Max Matern schlägt man am 22. Mai 1935 in Plötzensee mit einem
Handbeil den Kopf ab. Aus bislang ungeklärten Gründen wird Klause knapp sieben
Jahre nach seiner Begnadigung am 7. Februar 1942 in Plötzensee mit dem Fallbeil
enthauptet.
Erich
Mielke sammelt derweil in Moskau weitere Parteierfahrung und ebnet damit den
Weg für seine spätere Karriere in der DDR. 1907 in Berlin Wedding aufgewachsen
schließt er sich in seiner Gymnasialzeit der KPD an, bald darauf wird er
Mitglied der bewaffneten Garde der KPD, dem Partei-Selbstschutz (PSS). Nach der
Zeit im Exil in Moskau werden er und Ziemer 1936 Politkommissare in Spanien und
kämpfen an der Ebrofront, wo Ziemer 1937 in einem Panzer verbrennt.
Bis
zum Ende des Krieges durchläuft Mielke unter verschiedenen Decknamen folgende
Stationen. 1939 flüchtet er nach Belgien und wird im Mai 1940 in ein
Internierungslager an die französisch-spanische Grenze gebracht. Die
französische Vichy-Regierung arbeitet mit den Nazis zusammen und bringt 128
Kommunisten in das Straflager Le Vernet. Mielke flieht aus dem
Internierungslager und arbeitet drei Jahre lang unentdeckt als Holzfäller mit
lettischem Pass in Südfrankreich. Ende 1943 wird er dort nach einer
Auseinandersetzung mit seinem Chef verhaftet und an die Nazis ausgeliefert. Ab
Januar 1944 arbeitet er in Frankreich in der Nationalsozialistischen
„Organisation Todt“, wo er eigenen Angaben zufolge Zersetzungsarbeit leistet.
Nie wurde den Verdacht los, er habe in Frankreich Bunker für die verhassten
Nazis gebaut, während seine Genossen im KZ oder im Exil saßen. Im gleichen Jahr kommt er mit dieser
Organisation nach Deutschland zurück.
Die
spätere Behauptung, Mielke sei 1945 mit der Roten Armee als Befreier in
Deutschland einmarschiert, ist demnach falsch.
1950
wird durch Beschluss der provisorischen Volkskammer in Ost-Berlin das Ministerium
für Staatssicherheit (MfS) gegründet. Mielke arbeitet zunächst als
Staatssekretär für das MfS. Durch Skrupellosigkeit und Hinterhältigkeit
arbeitet er sich bald an die Spitze der SED. Einer seiner ersten Amtshandlungen
als Stasi-Mitarbeiter ist die Verhaftung von Kurt Müller, dem zweiten
Vorsitzenden KPD-Westdeutschland. Müller werden zu Unrecht parteifeindliche
Handlungen vorgeworfen, ein Vergehen also, das mit dem Tode bestraft werden
kann. Ziel ist es, Müller zum Verzicht auf sein Bundestagsmandat zu bewegen.
Von März bis August wird er Tag und Nacht unter anderem auch von Mielke
verhört. Müller muss während der dauernden Verhöre stehen und wird am Ende der
Befragung regelmäßig in eine so genannte Wasserzelle eingesperrt. Schließlich
übergibt Mielke sein Opfer der sowjetischen Militärbehörde. Im März 1953 wird
Müller wegen „Terrors“ verurteilt, 1955 jedoch begnadigt. 1957 wird Erich
Mielke von Wilhelm Pieck als Minister für Staatssicherheit vereidigt, er steigt
neben Staats- und Parteichef Erich Honecker zum mächtigsten Mann der DDR auf
und muss sich für weitere Todesfälle verantworten.
Sein
kompromissloses Vorgehen und seine Abneigung gegen verbale Lösungen hinterlässt
bleibenden Eindruck bei seinen Parteigenossen. Der 1, 63 Meter große Mann ist
kein begnadeter Politiker oder Spion, aber er verschaffte sich Respekt und
behielt den Posten an der Spitze der Stasi bis 1989 inne, so lange wie niemand
anders. 1982 betont er auf einer MfS-Sitzung: „Wir müssen alles erfahren! Es
darf nichts an uns vorbeigehen. Und das machen manche Leiter noch nicht. Die
merken das noch nicht einmal, Genossen, einige unter uns. Die begreifen das
sogar noch nicht
richtig.
Das ist eben die Dialektik des Klassenkampfes und der Arbeit der Tschekisten.“ Dass
die Stasi unter Honecker ihre Macht als Folter- und Mörder-Armee verliert,
passt Erich Mielke nicht. Er bevorzugt stets die einfache radikale Lösung. . „Hinrichten. Wenn nötig auch ohne Gerichtsurteil“, sagte
er 1982.
1989
wächst der gesellschaftliche Druck gegen das DDR-Regime. Am 3. November werden
Erich Mielke und vier weitere hochrangige Parteifunktionäre vom Politbüro
überredet, freiwillig ihren Rücktritt zu erklären. Zehn Tage später, mitten in
der „Wende“, spricht der physisch und psychisch stark angeschlagene Mielke zum
ersten Mal seit knapp drei Jahrzehnten vor der Volkskammer: „Wir haben,
Genossen Abgeordnete, einen
außerordentlich
hohen Kontakt mit allen werktätigen Menschen.“ Zwischenrufe und Gelächter
bringen den Greis aus der Fassung, er stottert: „Ich liebe, ich liebe doch alle
... alle Menschen. Ich liebe doch ... Ich setze mich doch dafür ein ...“ Es ist
still im Saal, als der Armeegeneral schließlich mit hochrotem Kopf zurück zur
Regierungsbank taumelt. Am Nachmittag des 3. Dezember tritt das Zentralkomitee
der SED samt Politbüro geschlossen zurück. Mielke, Honecker und andere
Repräsentanten der alten Führung werden aus der SED ausgeschlossen. Mielke wird
fünf Tage später unter dem Vorwurf festgenommen, durch Korruption und
Amtsmissbrauch die Volkswirtschaft „schwer geschädigt und sich persönlich
bereichert“ zu haben. In einer Ostberliner Haftanstalt wird dem
Untersuchungshäftling im Januar 1990 erklärt, dass gegen ihn wegen Hochverrats
ermittelt wird. „Was sie mir sagen, ist unfassbar“, entgegnet Mielke, „ Ich war doch zuständig, Hochverrat zu untersuchen und zu
bekämpfen.“ Später jedoch gesteht er seinem Sohn Frank: „Politisch -moralisch
fühle ich mich schuldig. Ich bekenne mich zu meinen Befehlen und Weisungen. Ich
trage auch dafür die politisch-moralische Schuld, dass vieles so gekommen ist,
wie es jetzt ist. Ich werde niemanden belasten, und ich habe auch nicht das
Recht, jemanden zu belasten.“ Im März ordnet DDR-Generalstaatsanwalt
Hans-Jürgen Joseph an, den Häftling wegen „erheblichen geistigen und
körperlichen Zerfalls“ aus der Untersuchungshaft zu entlassen. Wenig später
organisiert eine „treue Stasi-Garde“ den Rückzug Mielkes in ein Versteck
außerhalb Berlins. Ende Juli bescheinigt ihm ein Krankenhaus der Volkspolizei
Haftfähigkeit, Mielke wird wieder eingesperrt. Hans-Jürgen Joseph ist in der
Zwischenzeit abgelöst worden.
Am
Tag der Einheit, dem 3. Oktober 1990, übernimmt das Berliner Kammergericht die
Ermittlungen. Der entscheidende Prozess beginnt am 10. Februar 1992 in Berlin-Moabit
und dauert 20 Monate.
Gegenstand
der Verhandlung ist ein Doppelmord vom 9. August 1931, begangen an den beiden
Polizeioffizieren Paul Anlauf und Franz Lenk auf dem Berliner Bülowplatz. Wie
im Prozess von 1934 trägt der Saal im alten Gerichtsgebäude die Nummer 700 und
die inzwischen vergilbten Akten vom „Sturm 2/10“ der SA dienen der Staatsanwaltschaft
als Beweismittel. Hinzu kommen teilweise etwas jüngere Beweisdokumente aus
Archiven der ehemaligen Sowjetunion und neue Zeugen. Als Nebenklägerin tritt
die 73jährige Ostberlinerin Dora Zimmermann, geborene Anlauf, in Erscheinung.
Nach insgesamt 87 Verhandlungstagen wird Mielke am 26. Oktober 1993 unter
anderem des gemeinschaftlichen Mordes in zwei Fällen für schuldig befunden und
zu sechs Jahren Haft verurteilt. Er wird am 1. August 1995 nach Verbüßung von
zwei dritteln seiner Strafe, einschließlich der Untersuchungshaft, entlassen.
Im Jahr 2000 stirbt Erich Mielke in Berlin und wird anonym beigesetzt.